21. Juni 2023

Wunsch oder Wirklichkeit?

„No doubts“ – „Keine Zweifel.“ Was auf dem Sweatshirt einer Schülerin steht, hat mich nachdenklich gemacht. Zweifel brauche ich nicht. Gewissheit wünsche ich mir. Keine Unsicherheiten. Manchmal ist das leichter gesagt als geglaubt. Was bedeutet das jetzt? Für mich und für die, denen ich begegne?

Titelbild für Beitrag: Wunsch oder Wirklichkeit?

„Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber hatten Zweifel.“

Was stimmt und was nicht? Was ist echt und was entspricht nicht der Wirklichkeit? Was ist bearbeitet, aufgehübscht, verbessert, verändert worden? So manches macht mich inzwischen nachdenklich. Lässt mich zweifeln. In der Schule und außerhalb. Nicht nur durch Bildbearbeitungsprogramme oder durch die Unterstützung von Künstlicher Intelligenz sind inzwischen Ergebnisse möglich, die so noch vor kurzem nicht denkbar waren. In Wort und Bild. Hörbar und sichtbar. Aber nicht immer als Fälschung erkennbar. Ich glaube schon eine ganze Weile lang nicht mehr alles, was ich höre, sehe und erfahre. Bedenken habe ich, ob etwas tatsächlich so ist, wie es sich anhört. Oder wie es sich mir im Bild darstellt oder wie mir etwas erzählt wird. Ist das schlimm?  

„Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber hatten Zweifel.“

In der Bibel findet sich im Matthäusevangelium bei Mt. 28, 17 diese Passage. Jesus erscheint nach seiner Auferstehung von den Toten denen, die davor seine Gefährten waren. Den Menschen, die dabei waren bei dem, was Christus sagte und tat. Erst kurze oder auch längere Zeit. Manche von ihnen monate- oder jahrelang. Unterschiedlich sind ihre Reaktionen: Die einen sehen und glauben. (Vgl. Joh. 20, 8). Ohne Wenn und Aber. Andere sind skeptischer als diese. Voreingenommen vielleicht. Denn was nicht sein kann, ist auch nicht. Meinen sie. Das glauben sie auch so. So rasch überzeugen lassen sie sich nicht. Um mir meine eigene, belastbare und tragfähige Meinung bilden zu können, braucht es Zeit. Ich will prüfen dürfen, was für mich passt und was nicht. Ob sich meine Zweifel doch noch ausräumen lassen?

„Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber hatten Zweifel.“

Wenn für mich etwas klar ist, freue ich mich darüber und bin dafür dankbar. Ich brauche jetzt nicht mehr darüber nachzudenken, was richtig ist oder was nicht. Sicher kann ich sein, dass ich einen Sachverhalt verstanden und ihn begriffen habe. Eins und eins ergibt zwei und nichts anderes. Doch wenn ich etwas noch in Frage stellen muss, weil ich mir unsicher bin, braucht es eine Lösung. So oder so.

„Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber hatten Zweifel.“

An allen Menschen zu zweifeln, denen ich begegne, ist nicht nur im schulischen Kontext schwierig und bringt mich nicht weiter. Misstrauen, Unsicherheit und Vorsicht machen sich dort breit, wo und wenn ich meinem Gegenüber nicht mehr glauben kann. Wo ich ihr oder ihm unterstelle - berechtigt oder unberechtigt -, dass sie oder er mir die Unwahrheit sagt. Wer nicht ehrlich ist, unfair oder mit betrügerischer Absicht andere täuscht, sie absichtlich in die Irre führt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die eigene Glaubwürdigkeit nicht mehr gegeben ist. Kein Wunder, wenn Menschen in einem solchen Fall an mir zweifeln. Weil sie nicht wissen, wie sie bei mir wirklich „dran sind“. Ob ich echt und ehrlich zu ihnen bin in diesem Moment. Oder nicht.

„Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber hatten Zweifel.“

Legitim ist es, dass Menschen sich immer wieder in Frage stellen. Oder dass sie, ihr Verhalten, ihr Tun oder ihr Lassen in Frage gestellt werden. Nicht nur in der Zeit des Erwachsenwerdens, nicht nur in der Schule. Wenn ich aber an allem und jedem an oder in mir zweifle, verliere ich schneller den Halt, als mir lieb ist. Allein schon durch meine Einzigartigkeit und meine Einmaligkeit bin ich etwas Besonderes. Nicht, um mich über andere zu stellen oder gar auf sie herabzuschauen. Sondern, weil ich ich bin: Als Person mit Für und Wider, mit meinen Ecken und Kanten. Mit dem, was mich so liebenswert macht für andere. Auch mit den Seiten in mir, die ich mir nicht ausgesucht habe. Die ich am liebsten verstecken oder verbergen würde vor denen, mit denen ich zusammenkomme. Die mich zweifellos dennoch in meinem So-Sein geprägt haben und immer noch prägen. Die mich auszeichnen und ausmachen als der Mensch, der ich bin.

„Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber hatten Zweifel.“

Nicht erst seit es Fake News gibt oder KI immer mehr von sich reden macht und Menschen an Grenzen bringt, fragen sich viele: Was kann ich noch – nicht nur im religiösen Sinn – glauben? Wem kann ich tatsächlich noch vertrauen? Wenn ich als Schulseelsorger bei all dem, was mir Menschen jeden Alters erzählen oder was ich von ihnen erfahre und mit ihnen erlebe, nicht mehr an das Gute in ihnen glauben kann, wird meine Arbeit kaum mehr möglich. Gegebenenfalls sogar zu schwer oder nicht möglich. Wenn und weil mir das Vertrauen in mein Gegenüber und ihre oder seine Authentizität fehlt. Niemand ist perfekt. Keiner kann immer alles zu jeder Zeit richtig machen. Doch muss ich wirklich bezweifeln, dass Menschen sich ändern können, wenn sie es wollen? Wenn sie sich mit ihren Kräften und nach ihren Möglichkeiten darum bemühen, sich zu verbessern? Aus eigenen Fähigkeiten. Oder mit der Hilfe und durch die Unterstützung anderer, zu denen sie echtes Vertrauen aufbauen.

„Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber hatten Zweifel.“

Sicherlich hat Jesus auch Spaß verstanden und hatte Humor. Doch führte er die, denen er begegnete, nicht hinters Licht. Jesus machte ihnen nichts vor. Er hat ihnen keine Stories erzählt, denen es an Echtheit fehlte. Im Matthäusevangelium bringt er es auf den Punkt, wenn er seinen Zuhörern deutlich macht: „Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen.“ Für mich hat er damit zweifellos Recht.  

Br. Clemens Wagner ofm, Schulseelsorger